Romano Guardini - Was ist Weisheit - ton evangelisation

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Romano Guardini - Was ist Weisheit

TEXTE

Ausschnitt aus Romano Guardini -
Christliche Weltanschauung
und menschliche Existenz
Leben, Persönlichkeit, Charisma und Wirken, Seite 25-28
Franz Henrich
(Mit Texterkennung eingescant, Textfehler könnten vorkommen)

Was ist Weisheit?

Alle Bemühung, das Charisma Romano Guardinis zu beschreiben, erweist sich als Hilflosigkeit, wenn der Meister selbst zu Wort kommt.
Ein paar Abschnitte aus einer Predigt über den Psalm 89, einer Predigt über die Vergänglichkeit, seien als Tonbandabschrift angefügt. Guardini wählte aus diesem wunderschönen Psalm den Vers: »Unsere Tage zu zählen lehre uns, daß wir zur Weisheit des Herzens gelangen.« Und er fragt im zweiten Teil: Weisheit — ist es Erkenntnis, ist es der Verstand, ist es die Klugheit? Was ist also Weisheit?

»Was ist denn Weisheit? Weisheit hat damit zu tun, wie das Leben einen Sinn gewinnt, wie das Leben voll wird von dem, was dauert, wie das Leben so wird, daß, wenn einmal das Ende kommt, der Mensch nicht das Gefühl hat: Die Hände sind leer. Daß er bei aller Einsicht in die eigene Armseligkeit weiß: Ja, es ist was drin. Und so wenig das vor Gott gilt, immerhin es ist etwas drin. Und das geht hervor aus der Kunst, unterscheiden zu können. Und da ist der wunderbare Gedanke des Psalms, daß er sagt: Der große Unterschied, der alle Unterscheidung begründet, lautet: Gott ist Gott, und der Mensch ist Mensch. Und wer die Gotteswahrheit angreift, verurteilt die Menschen zur Torheit. Daher die Furchtbarkeit des Experiments, was heute gemacht wird: Menschen ohne Gott, Völker ohne Gott aufzuziehen. Es kann einem grauen! Zum ersten Mal in der Welt geschieht das Experiment. Wie es gehen wird, weiß kein Mensch. Sicher nicht gut! Sicher wird zerstört werden die Gabe der letzten Unterscheidung: die Weisheit.
Was ist denn Weisheit? Nehmen wir einmal ein kleines Beispiel. Wir fühlen — um auszugehen von dem, von dem der Psalm spricht — wir fühlen die Vergänglichkeit aller Dinge, müssen sie fühlen, auch wenn wir nicht wollen. Und nun kommt das Gegengefühl: Wie mache ich es denn, daß es nicht so schnell vergeht? Und da kann einer sagen: Da muß ich erregende Dinge hineintun, Dinge, die mich packen: Vergnügen, Erfahrungen, Erlebnisse, dahin gehen, das sehen, da mitmachen usw. — immer etwas hineintun in der Hoffnung, daß es langsamer geht. Da sagt die Weisheit: Du Tor, du gehst ja gerade schnell. Je mehr du dein Leben voll-packst, je mehr Erregungen hineinkommen, je mehr Neugierde befriedigt wird, je mehr Sensation du bekommst, desto schneller geht das ja. Drum heißt es ja Langeweile, das Dann-langsam-Gehen, wenn keine Erregungen sind. Obwohl das wieder eine Frage für sich ist. Oder aber ein anderer sagt: Ich muß wichtige Dinge hineintun, ich muß Unternehmungen machen, ich muß Ämter haben, ich muß da mittun, dort mittun; und da hetzt er immer weiter von einem zum andern. Und am Schluß sagt er sich: Wofür eigentlich? Weg ist alles! Und am Ende des Lebens steht er da mit leeren Händen. Die Weisheit sagt: Das ist falsch. Weise wäre, wenn du in das Leben Dinge hineintätest — und nun erlauben Sie einen etwas kühnen Ausdruck —, die von der Art Gottes sind: Das sind Dinge, die nicht bloß lang dauern, nicht bloß heftig erregen, sondern die gültig sind. Was ist gültig? Das Gute! Wenn ich eine Pflicht erfüllt habe, obwohl sie mir unangenehm war; die Handlung vergeht, die Situation vergeht, aber etwas bleibt: das getane Gute. Das ist von der Art Gottes! Oder wenn ich einen Menschen, den ich vielleicht gar nicht mag, der mich ungeduldig macht, wenn ich dem mit Liebe begegne, wenn ich ihm helfe — wieder in diesem Erfüllen des Liebesgebotes geschieht etwas, das nicht mehr zerfällt.
Drumherum zerfällt vieles: Die Stunde zergeht, die Situation mit ihrer Erregung und so weiter zergeht, der Mensch, der Ich-Mensch, der Ich-sterbe; es bleibt, daß in diesem Augenblick Liebe geübt worden ist. Denn das ist von der Art Gottes! Das zu verstehen und das nicht nur mühsam sich klar zu machen, sondern ins Gefühl zu bekommen: das ist Weisheit! Nehmen wir ein anderes Beispiel. Ich habe mit einem Menschen zu tun, und dieser Mensch hat gute Eigenschaften und schlimme. Er hat Anziehendes und Abstoßendes. Und nun wäre es Torheit hinzugehen: Das Gute will ich — das andere nicht, das soll weg, das soll abgeschnitten werden. Die Weisheit sagt: Das kannst du nicht; du kannst an einem Menschen nicht aussuchen, denn in ihm hängt ja alles zusammen, und seine beste Eigenschaft hängt noch irgendwie zusammen mit seiner tiefsten Schwäche. Weise bist du, wenn du zunächst den Menschen als Ganzes nimmst, >ja< zu ihm sagst, ihn annimmst. Und dann kannst du langsam betonen das eine — und das andere abzuschwächen suchen, auszugleichen suchen; dann wird's gut. Das wäre Weisheit!
Und noch einmal ein Drittes, damit wir das Gefühl bekommen, was damit gemeint ist. Wohl eines der Schönsten, vielleicht das Schönste, was es auf der Welt gibt, ist, daß ein Mensch den andern liebt. Ich meine hiermit nicht das Physische, die Emotion, die auch ihren Sinn hat, aber nein, das andere: das Wunderbare, daß ein Mensch, der doch von Natur Egoist ist, daß der sich öffnet und den anderen hineinnimmt in sein Herz. Daß der andere ihm so wichtig wird, wie er sich selbst, vielleicht noch wichtiger. Und es entsteht das Bewußtsein, daß der eine im anderen geborgen ist.
Sehen Sie, was wäre da Torheit? Torheit wäre, diese Liebe erzwingen zu wollen, sie fordern zu wollen, drängen zu wollen, zu nörgeln, wenn sie nicht fühlbar wird, sie kaufen zu wollen mit Gefälligkeiten, mit dem, mit jenem. Denn diese Liebe kann nur in Freiheit existieren. Sie muß geschenkt werden und immer aufs neue geschenkt. Und daß sie zehn Jahre lang geschenkt war, bedeutet nicht, daß sie es noch ein elftes Jahr ist. Es ist das Ziel, daß sie's werde. Denn zum Wesen der Liebe gehört irgendwie auch die Ewigkeit, aber eine Ewigkeit, die nicht aus Sicherungen hervorgeht, nicht aus Zwang, sondern immer neu aus der Freiheit des Herzens. Und daran stirbt diese Liebe, wenn sie gefordert wird, wenn sie nicht in Ehren gehalten wird; wenn der Umgang hemdsärmelig wird, wenn er grob wird, dann stirbt die Liebe. Wir können sie nicht machen, aber wir können um sie dienen; wir können sie mit Ehrfurcht umgeben, sagen wir es mal direkt: mit Höflichkeit, mit Rücksicht — dann gedeiht die Liebe. Sehen Sie, das zu verstehen und nicht zu kommen mit der Grobheit, die sagt: >Wir sind doch verheiratet; ich habe doch ein Recht!< — nicht das zu sagen, sondern immer neu in Ehren zu halten und die Freiheit entgegenzunehmen: das ist Weisheit!
So, und am Schluß noch etwas: Sehen Sie, Weisheit ist auch die, mit der eigenen Weisheit vorsichtig umzugehen. Denn die Weisheit ist eine verderbliche Tugend. Und wenn man um sie weiß und sie betont und sie vor sich herträgt, dann wird sie sauer, dann verdirbt sie, dann geht sie auf die Nerven — nicht nur -, »dann wird sie selbst zur Torheit, und zwar zu einer von schlimmerer Art als jene, die sie überwinden wollte.«
Romano Guardini trug nicht seine Weisheit vor sich her. Auf seine Grabplatte ließ er schreiben: »Im Glauben an Jesus Christus und seine Kirche, im Vertrauen auf sein gnädiges Gericht.«

Anmerkungen

Dieser Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, der am 2. Februar 1985 im Rahmen einer Festakademie der Katholischen Akademie in Bayern anläßlich des 100. Geburtstags von Romano Guardini gehalten wurde.


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